
Einstimmung
Marseille.
Spät abends komme ich mit dem Zug in Marseille an. Ein Zwischenstop auf dem Weg nach Nizza. Über 2500 Jahre Immigration haben die Stadt geprägt, ein bunter Schmelztiegel der Kulturen; Handelsstadt am Mittelmeer, urbane Metropole und sozialer Brennpunkt zugleich.
Marseille.
Ein lauer Sommerabend am Mittelmeer. In den Seitenstraßen nahe des Bahnhofs bin ich weit und breit die einzige Frau auf den Straßen. Im Kneipenviertel fährt mit röhrenden Motoren ein Squad der Bandidos vor. Müllwagen rasen in wahnwitzigem Tempo durch die Stadt; an jeder Ecke springen hochmotiviert drei junge Männer heraus und machen sich an überquellenden Abfallcontainern zu schaffen. Nachhaltige Wirkung ist nicht auszumachen.
Auf den Straßen und Plätzen wimmelt es von Menschen. Cornern á la Marseille. Das Must-Have dazu: Cola in Dosen statt Flaschenbier vom Kiosk. Ich hole mir auch eine und staune über die Wirksamkeit gesellschaftlicher Konventionen.
Männer in Polohemden bevölkern den Yachtclub am Vieux Port, dem alten Hafen. Aufgetakelte junge Frauen mischen sich unter die Menge.
In meinen Outdoor-Klamotten fühle ich mich deplatziert und wie ein Fremdkörper in all dem quirligen Leben. Doch Andersartigkeit scheint hier nicht weiter aufzufallen.
Auf dem Platz vor der Oper spielen Jugendliche Straßenfußball.
Calanques.
Ein prognostiziertes Unwetter lässt mich den Tourstart noch drei Tage verschieben. Um der Stadt zu entfliehen, fahre ich in die Calanques. Ich habe mein Gepäck dabei und will an der Steilküste entlang zum Campingplatz im nächsten Ort laufen. 15km schätze ich mit flüchtigem Blick auf die Karte. Perfekt zum Einlaufen.
Schönstes Frühlingswetter lockt die Menschen in Scharen hinaus. Zwischen seilbehangenen Kletterern, Trailrunnern, Wanderern und Spaziergängern fühle ich mich zugehörig. Die Landschaft ist herrlich, durch lichte mediterrane Wälder öffnet sich immer wieder der Blick auf die atemberaubende Steilküste und die tief unten liegenden Felsenbuchten, die Calanques.
Calanques.
Der Weg wird steiniger, und ehe ich mich recht versehe, klettere ich auf Händen und Füßen steile, geröllige Felshänge hinauf. Urplötzlich und unerwartet hat sich der gemütliche Spaziergang in eine ernstzunehmende Bergwanderung verwandelt. Das ist deutlich anspruchsvoller als ich – zumal mit dem großen Rucksack! – geplant hatte!
Der einfache Teil des Weges.
Doch ich bin zufrieden: die Schuhe – nur leichte Wanderschuhe statt fester Stiefel – machen das Gelände problemlos mit; der Rucksack trägt sich auch in schwierigem Gelände mühelos. Andere Wanderer versichern mir, dass der weitere Weg einfacher wird, die Aussicht ist prächtig, die Sonne scheint herrlich und so spaziere ich frohen Mutes weiter.
Aussichten.
Doch einige Stunden später weicht die Zuversicht langsam milder Panik. In dem anhaltend schwierigen Gelände komme ich deutlich langsamer voran als gedacht, es ist erst die Hälfte des Weges geschafft. Es ist zwar noch früh am Tag und noch genügend Ausdauer für den Rest vorhanden, auch die Füße sind noch fit, doch die Beinmuskeln sind von der unerwarteten Kletterei deutlich erschöpft – typisch Flachländerin! Ich traue mir den weiteren, anspruchsvollen Weg nicht zu; habe Angst, dass ich irgendwann mit schweren Beinen unweigerlich stürzen würde. Auch mein Wasser wird bei dem Tempo nicht reichen.
Im Gegensatz zum Rest meiner Tour, bei dem ich übermäßig steile Passagen in den ersten Etappen bewusst vermeiden werde, habe ich diesen spontanen Ausflug eindeutig nicht gut genug geplant. Guter Rat ist teuer.
Ich spreche auf dem Weg mehrere Leute an und hole Rat ein – und treffe schließlich auf Catherine und Iris, Mutter und Tochter. Etwas mühselig erkläre ich meine Situation – auf Französisch, bien sûr! – und verstehe, dass sie in einer Herberge hier mitten im Naturpark nächtigen, nur etwa eine Stunde entfernt.
Spontan schließe mich Ihnen an; belohnt werde ich schließlich mit einer Nacht in einer rustikalen Herberge – keine Dusche, keine Verpflegung, kaltes Wasser aus der Zisterne und Strom aus der Solaranlage, doch mit der besten Aussicht, die man sich nur vorstellen kann.
Was für ein Tag!
2 Gedanken zu „Einstimmung“
Hey Nicole,
DAS ist ja mal ein cooles Vorhaben! Da werd ich auf jeden Fall mitlesen. Total gute Wahl der Strecke finde ich. „Warum Frankreich“ kann auch nur jemand fragen, der nie da war. Und keine Dokus guckt 😉 Auf so eine Art von Wanderung hab ich auch schon lange richtig Bock. Der Wild Atlantic Way an Irlands Westküste wird es früher oder später mal werden. Wahrscheinlich eher später 😉 Auf jeden Fall drück ich die Daumen, dass du es bis zum Ende durchziehen kannst. Bonne chance, Mademoiselle! Allez-allez!
Moin Dominik,
vielen Dank für die guten Wünsche! Freut mich sehr, dass du mitlesen magst. Ich muss gestehen: ich war noch nie in Irland, da muss ich irgendwann auch unbedingt mal hin. Ob zu Fuß oder ob ich davon dann genug habe, bleibt abzuwarten 😉
Halte deinen Plan fest, irgendwann kommt dafür schon die richtige Zeit! 🙂 Und bis dahin sorge ich gerne hier für etwas Fernweh. On y va!