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Autor: Nicole

Vercors: Gedenken

Vercors: Gedenken

Tag 34: Léoncel – Lente

Der Vercors ist ein schwer zugänglicher Gebirgsstock, der nach allen Seiten durch steil abfallende Kalksteinwände begrenzt ist. Oben erstreckt sich über rund 30 Kilometer Länge ein Hochplateau, das ich in den nächsten Tagen durchwandern werde.

Zunächst geht es weiter hinauf. Über die Höhen braust der Wind; tief hängende Wolken wabern über die Hänge. Die Sicht beträgt oft nur wenige Meter.

Schön hier! Vermute ich zumindest.

Nur wenige Orte existieren hier oben; dafür gibt es sporadisch einfache Schutzhütten, in denen man nächtigen kann, wenn man ohne Strom, Wasser und Bett auskommt.

Schutzhütte „Ferme d’Ambel“.

Überhaupt ist Wasser ein rares Gut im Vercors: es versickert schnell in dem porösen Kalkgestein; es gibt nur wenige Quellen.

Die wenigen Quellen dienen auch als Viehtränke.

Es ist noch früh, also entscheide ich mich gegen die Schutzhütte und laufe weiter zu einer Herberge.

Der einsam gelegene Hof wirkt verlassen und der Besitzer überrumpelt, als ich unangekündigt an einem nebeligen Sonntag Abend vor der Tür stehe. Doch am Ende habe ich zum Herbergstarif eine riesige Ferienwohnung in einer ausgebauten Scheune ganz für mich alleine. Mit Fernseher und Badewanne! 😀

Etappenlänge: 21km

Tag 35: Lente – Vassieux-en-Vercors

Ein Ort in Frankreich besteht aus Kirche, Rathaus – und einem Kriegerdenkmal.

Die Liste der Gefallenen des 1. Weltkrieges ist stets lang; oft zwei oder drei junge Männer aus einer Familie, selten einmal jemand über dreißig.

Ich halte oft inne, lese die Namen, bin bedrückt über die sinnlos genommenen Leben. Und ich empfinde tiefe Dankbarkeit: vor drei oder vier Generationen standen unsere Vorfahren sich auf den Schlachtfeldern Europas gegenüber, und heute heißen die Menschen in diesem Land mich willkommen. Mir wird bewusst, was für ein kostbares Gut der Frieden in Europa ist, den wir so selbstverständlich hinnehmen – und wie hoch der Preis dafür war.

Kriegsgefallenendenkmal in Castellane.

Die Liste der Namen der Opfer des zweiten Weltkrieges ist meist kürzer – oft verstarben sie am gleichen Tag; auffallend oft sind auch die Namen von Frauen darunter; sie alle noch kaum erwachsen.

Ab 1940 war Frankreich zwiegespalten: der Norden von Deutschland besetzt; der Süden unterstand dem Vichy-Regime, das mit den Deutschen kollaborierte. Um dem Arbeitsdienst zu entgehen, flohen Hunderte junger Männer in den schwer zugänglichen Vercors. Über 4 Jahre bildete sich dort einer der wichtigsten Rückzugsorte des „Maquis“, des bewaffneten Widerstands innerhalb der Resistance, unterstützt von der einheimischen Bevölkerung.

Eines der ersten Camps war das „Ferme d’Ambel“.

In Vassieux-en-Vercors besichtige ich das „Musée de la Resistance“ und eine Gedenkstätte, die 1994 errichtet wurde, als sich das Ende des Maquis im Vercors zum 50. Mal jährte.

Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie. Den Widerstandskämpfer hatten sie Verstärkung und schwere Waffen zugesichert, doch die Unterstützung, die über eine Luftbrücke erfolgen sollte, blieb fast völlig aus. Dennoch erhoben sich im Juli 1944 fast 4000 Männer, um aus dem Vercors heraus in den offenen Kampf gegen die Wehrmacht zu treten.

„Hier beginnt das Land der Freiheit“: Mit Ausrufung der „République du Vercors“ erhoben sich die Partisanen.

Doch zu spät: mit rund 15.000 Soldaten rückten die Deutschen an, um den Partisanen in der „Festung Vercors“ ein Ende zu bereiten. Am 22. Juli 1944 ergingen die ersten Luftangriffe auf Vassieux-en-Vercors; am Ende starben über 600 Widerstandskämpfer und mehr als 200 Zivilisten. Der Maquis des Vercors war geschlagen – oder hatte er sein Ziel erreicht?

„Diese 15.000 Deutschen fehlten anderswo an der Front. So war die Festung Vercors von Anfang an gedach gewesen!“, sagten einige.

Einen Monat später befreiten die Alliierten Grenoble.

Vassieux-en-Vercors aus der Luft.

Etappenlänge: 12km

Drôme

Drôme

Tag 27: Dieulefit – Bourdeaux

Nach dem faulen Ruhetag fällt es schwer, wieder in die Gänge zu kommen. Am späten Vormittag verlasse ich Dieulefit und steige zu der idyllisch gelegenen, gut erhaltenen romanischen Kirche von Comps (Bild) hinauf.

Kurz darauf gibt es wieder einen „Szenenwechsel“: der Weg führt auf der Nordseite eines Hügels hinauf, und ich stehe zum ersten Mal auf dieser Wanderung in einem wunderschönen Buchenmischwald. Yeah!

Insgesamt bleibt es heute sehr lieblich: Laubwälder wechseln sich mit schmalen Trampelpfaden über blühenden Wiesen ab; die Sonne scheint herrlich dazu.

Ich beschließe den Tag bei einem Bier in Bourdeaux (das sich von der berühmten Weinmetropole durch ein „u“ deutlich abgrenzt) und nächtige auf einem „Camping a la ferme“: ganz allein in einem weiten Eichenhain.

Was für ein herrlicher Tag!

Etappenlänge: ca. 19km

Tag 28: Bourdeaux – Saou

Es regnet. Es regnet nachts, es regnet bis in den späten Vormittag hinein. Für Nachmittags sind schwere Gewitter vorhergesagt. Zum dritten Mal beschließe ich, einen Berg auf tieferer Route zu umgehen.

Da oben möchte ich nicht im Gewitter herum klettern.

Über Mittag klart es etwas auf und ich wandere über Felder und Wiesen nur zwei Orte weiter bis nach Saou.

Der Campingplatz liegt zwischen steil aufragenden Felswänden in einer tief eingeschnittenen Schlucht. Kaum ist das Zelt aufgestellt und die Wandererin geduscht, bricht auch schon das Unwetter los.

Mensch und Tier flüchtet sich auf die Veranda. Mit Stammgästen und Betreibern, bei gutem (!) Bier aus kleiner, lokaler Brauerei und kurzweiligen Gesprächen in vielsprachigem Kauderwelsch vergeht der Abend wie im Flug, während draußen die Welt im Gewitterregen versinkt.

Zur Begrüßung habe ich diesen flauschigen Wollpullover bekommen.

Der Abend neigt sich dem Ende entgegen. Unerwartet legen mir die Betreiber einen Schlüssel hin. Bei dem Wetter haben sie Mitleid mit mir und meinem kleinen, nassen Zelt: ich darf in einem leer stehenden Blockhaus nächtigen. Meinen Dank wischen sie fort: „.. pour la famille“ – nach dem geselligen Abend gehöre ich zur Familie. Dankbar nehme ich an.

Etappenlänge: ca. 13km

Wort des Tages: la convivialité

Tag 29: Saou – Beaufort-sur-Gervanne

Am nächsten Tag bin ich früh auf den Beinen. Noch hängt der Nebel in der Schlucht, doch bald wird es sonnig und schön.

Schon am Vormittag bin ich über den steilen Felsrücken aus der Schlucht herausgestiegen. Auf der anderen Seite bietet sich ein atemberaubend schöner Ausblick über das Tal der Drôme.

Über dem Tal der Drôme. Panorama!

Am frühen Nachmittag komme ich an einem Restaurant vorbei. Ich nehme auf der Terrasse Platz und bestelle ein Alster. Eine halbe Minute später ist die Chefin da: „Gibt’s nicht. Nur Getränke machen wir nicht. Nur Essen!“

Das ist also die französische Variante von „Auf der Terrasse nur Kännchen“… 🙂

An meinem Tagesziel in Beaufort-sur-Gervanne muss ich Proviant aufstocken – über die nächste Woche gibt es keine sichere Einkaufsgelegenheit. Das örtliche Lebensmittelgeschäft hat vor ein paar Jahren geschlossen, daraufhin hat eine Anwohnerinitiative beschlossen, dass sie die lokale Versorgung erhalten wollen und einen kleinen Bioladen mit regionalen Produkten eröffnet. Sehr sympathisch – und sehr praktisch: statt Großpackungen aus dem Supermarkt kann ich mir Müsli, Nudeln, Nüsse und Trockenfrüchte einfach nach Bedarf abfüllen. Brot, Käse, Schokolade, Kaffee, Obst und Joghurt dazu: perfekt!

Nahrhaft, lecker und sogar ein bisschen gesund.

Der heutige Campingplatz wird von einem sympathischen, älteren Hippie-Paar betrieben. Bei einsetzendem Landregen lasse ich mich mit lokalen Spezialitäten – „Ravioles“, die kleinen Schwestern der italienischen gefüllten Teigtaschen – bekochen. Draussen wird eine Sau ums Haus getrieben: anscheinend ist dem Nachbar die fröhlich grunzende Herde ausgebüxt. Erneut bietet man mir einen trockenen Schlafplatz in einem ungenutzten Wohnwagen. Heute lehne ich ab; so stark ist der Regen nicht.

Notfallquartier.

Insgeheim frage ich mich ja, ob ich mittlerweile schon so erbarmungswürdig verstruppt und ausgehungert aussehe, dass ich ständig mit Essen und Unterkünften versorgt werde 🙂

Etappenlänge: ca. 28km

Tag 30: Beaufort-sur-Gervanne – Léoncel

Ich werde von Windböen geweckt, die an meinem Zelt zerren. Es nieselt. Halsschmerzen künden eine Erkältung an.

Über 20km führt mein Weg mich heute fast 1000hm hinauf. Ich nähere mich dem Hochplateau des Vercors.

Gegen Mittag ist klar, dass der Regen nicht aufhört. Zelten ist eindeutig keine Option: Ich rufe in der Herberge an und reserviere für die Nacht ein Bett. Ich glaube, erfolgreich.

Am Nachmittag trete ich aus dem Wald heraus. Der Weg zieht sich endlos über matschige Kuhweiden, bis zu den Knöcheln stecke ich im Dreck.

Tiere im Nebel.

Der Wind hat sich zu einem veritablen Sturm ausgewachsen; teilweise komme ich kaum voran. Der Regen schlägt mir waagerecht entgegen. Ich bin seit Stunden nass und inzwischen auch bedenklich kalt. Nur weiter, weiter!

Endlich kommt die Klosterkirche von Léoncel in Sicht. Die Herberge ist gleich nebenan. Ein alter Mann steht in der Tür und empfängt mich. Erst viel später verstehe ich, dass er auch nur ein Wanderer ist.

Gite d’etape im ehemaligen Kloster Léoncel.

Trotz Dusche, Suppe und Tee werde ich nicht warm. In der Nacht setzt Fieber ein. Draussen tobt der Sturm.

Etappenlänge: 19km

Tag 31-33: Léoncel

Am Ende bleibe ich drei Tage in der Wandererherberge von Léoncel, bis das Fieber und der Sturm ausgestanden sind.

Und dann geht es endlich hinauf in den Vercors!

Côtes du Rhône

Côtes du Rhône

Tag 23: Buis-de-Baronnies – Nyons

Als ich gegen 8 Uhr in Buis-de-Baronnies aufbreche, öffnet gerade der Wochenmarkt. Früchte, Gemüse, Käselaibe, Würste, Brote, Oliven, Nougat, Gebäck, Olivenöl, ganze Schinken, Nüsse und tausend andere Leckereien, soweit das Auge reicht.

Schnell weg, bevor ich der Versuchung erliege und mir die Taschen vollstopfe!

Zum Glück mag ich gar keine Wurst. 🙂

Hinter dem Ort geht es durch Weinberge hinauf. Oben am Pass wandere ich über grüne Weiden; dicht über mir ziehen ein paar Adler vorbei.

Pass „Col de Linceuil“. Im Gegensatz zu den Vögeln nicht fotoscheu.
Wer so hübsch ist, darf auch auf meinem verschrammten Knie sitzen!

Der Weg zieht sich; Hitze und Schauer wechseln sich ab. Ganz am Ende geht es noch ein Mal über einen steilen Geröllhang hinauf, durch ein ausgewaschenes, trockenes Bachbett steil hinunter – und dann in schier endlosen Serpentinen bis tief in die Ebene hinunter, bis endlich Nyons erreicht ist. Puh!

Römische Brücke, das Wahrzeichen von Nyons.

Hier will ich eigentlich einen Tag Pause machen, doch alles ist ausgebucht oder überteuert – selbst der Campingplatz, zu dem ich noch hinaus laufe. Für 18 Euro habe ich die Wahl zwischen Schotterplatz oder Wiese mit Lärm von der Schnellstraße. Länger als eine Nacht bleibe ich hier nicht!

Etappenlänge: ca. 28km

Tag 24: Nyons – Font-de-Barral

Besser kann ein Tag nicht beginnen: freundliche holländische Camper laden mich zum Kaffee ein. Jetzt, in der Nebensaison, sind die Campingplätze fest in niederländischer Hand – das ändert sich erst, wenn Mitte Juli die großen Ferien der Franzosen beginnen.

Heute ist Markt in Nyons, hier überwiegt allerdings Kunsthandwerk und Tand. Alles ist sehr touristisch hier. Schnell weg!

Kaum habe ich meine Einkäufe erledigt und die Stadt verlassen, bricht auch schon ein Starkregenguss über mich herein. Nass bis auf die Knochen wandere ich den Nachmittag über durch die Weinberge. Der Boden ist lehmig, immer wieder stecke ich knöcheltief im Schlamm.

Dieses praktische und höchst modische Accessoire schützt zuverlässig gegen Schlamm, Steine im Schuh, wilde Schweine und überhaupt alle Gefahren. Arrrr!

Nyons bildet die Grenze zwischen den nördlich und östlich gelegenen, oft nebelig-trüben Mittelgebirgen und den sonnigen Ebenen und dem Rhône-Tal im Süden und Westen. In seinem milden Klima wird neben Oliven vor allem Wein angebaut, welcher unter der Herkunftsbezeichnung „Côtes du Rhône“ auch in deutsche Supermärkte gelangt.

Symbolbild des Tages: Wolken und Weinberge.
Abendessen mit der Ausbeute vom Markt. Fehlt nur noch der Wein!

Etappenlänge: ca. 14 km

Wort des Tages: Vignoble

Tag 25: Font-de-Barral – Dieulefit

Endlich Sonne! Ich verlasse die Ebene und wandere durch Weinberge gen Norden. Der feuchte Talboden dampft unter den Sonnenstrahlen und es ist drückend schwül.

Ungewohnte Ansichten: gen Süden erstrecken sich weite, sonnige Ebenen.
Tour d’Alençon. Verfallene Ruinen auf grünen Hügeln und jeden Tag Regen: Südfrankreich ist das bessere Schottland.

Ich habe mal wieder eine Abweichung von der geplanten Route genommen. Leider war mir vorher nicht klar, dass mich der Weg dabei über privaten Grund, eine Unzahl an Weidezäunen und „Durchgang verboten!“-Schilder führen wird. Ups!

Mein Aufenthalt hier ist vermutlich hochgradig illegal. Ich bereue nichts!

Etappenlänge: ca. 22km

Wort des Tages: „Ça tape!“ (befand ein Weinbauer am Wegesrand. In Deutschland brennt die Sonne, in Frankreich klatscht es.)

Tag 26: Dieulefit

In Dieulefit lege ich nach 1,5 Wochen endlich den dringend nötigen Pausentag ein.

Wäsche waschen, Elektronik laden, Einkaufen, im Schatten liegen und chillen bilden das übliche Programm. Ein Kilo Erdbeeren verschwindet auf mysteriöse Weise vor meinen Augen.

Eine Essenseinladung meiner Zeltnachbarn Paul und Irène und angeregte Gespräche bis spät in den Abend hinein krönen den Tag. Ich lebe offenbar mittlerweile fast ausschließlich von niederländischer Gastfreundschaft.

Kaffeekultur und lokale Töpferwaren in Dieulefit.
Les Baronnies: Rund um den Mont Ventoux

Les Baronnies: Rund um den Mont Ventoux

Tag 20: Sault – Montbrun-Les-Bains

Mit seiner Lage am Fuße des Mont Ventoux ist Sault ein Mekka für Rennradfahrer. Auf dem Zeltplatz entdecke ich aber auch ein Pärchen aus Bad Oldesloe im Camper.

Ich: Moin!

Sie: Oh. Moin. Das kennen wir! Woher?

Ich: Aus Bremen.

Sie (verwirrt): … aber doch nicht mit dem Fahrrad?!

Ich: Nein, nein. Zu Fuß.

Sie: …

Ich: … aus Nizza.

Sie (ungläubig): Waaas? Ich dachte, vielleicht hier in der Gegend, so zwanzig, dreißig Kilometer?!

Ich: Ja, schon. Jeden Tag.

(Fassungsloses Schweigen.)

Fast wäre der guten Frau das Frühstück aus dem Gesicht gefallen.

Der Weg beginnt heute leicht, es geht stetig bergab, auch die Füße sind erholt. So geht das Wandern gut voran!

Sieht hier fast aus wie zu Hause.

Tatsächlich musste ich mich in den ersten Tagen enorm daran gewöhnen, dass ich hier für alle Strecken deutlich länger brauche als ich es aus dem norddeutschen Flachland gewohnt bin – mittlerweile sind Einschätzungen und Kondition aber zum Glück deutlich besser geworden. 🙂

Schon kurz nach Mittag bin ich in Montbrun-Les-Bains. Eine heranziehende Gewitterfront lässt mich den Tag früh beenden. Dafür habe ich endlich einmal die Muße, mir noch die Stadt anzusehen und Abends eine exzellente Pizza essen zu gehen.

Montbrun-Les-Bains

Typisch provençalischer Uhrenturm („Tour d’Horloge“) mit Metallkäfig über der Glocke. Ziegel würden den Winden nicht Stand halten.

Jeder Ort braucht eine Ruine.
Hübsch hier!

Etappenlänge: ca. 14km

Tag 21: Montbrun-Les-Bains – Le-Poët-en-Percip

Gemütlich geht es weiter, erst auf Wirtschaftswegen im Wald, später über schmale Pfade.

Einer der spannendsten Aspekte bei meiner Wanderung ist, dass ich immer wieder beobachten kann, wie sich Gelände, Gestein, Wasser und Vegetation ändern; manchmal abrupt, manchmal nur graduell. Wie sie sich gegenseitig beeinflussen und natürlich auch die menschliche Nutzung der Landschaft prägen.

Hier in den „Baronnies“, wie die Gegend rund um den Mont Ventoux heisst, ist die Landschaft im Vergleich zum Lubéron wieder etwas rauhe geworden: die Berge höher, die Ebenen weniger fruchtbar. Nichts desto trotz ist die Landwirtschaft noch immer ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der spärlich besiedelten Gegend.

Eine Mondlandschaft aus riesigen „Sandhaufen“. (Sandstein , Kalkstein? Wer weiß es genauer?)
Erosion hat interessante Strukturen hinterlassen.

Ich beende den Tag in Le-Poët-en-Percip; der ungewöhbliche Name deutet aber nur auf einen Gipfel (lat.: Podium) hin, nicht auf einsame Dichter in den Bergen.

Etappenlänge: ca. 17km

Tag 22: Le-Poët-en-Percip – Buis-de-Baronnies

Weiter geht es über die Höhenzüge der Baronnies. Trotz der eher geringen Höhe von etwa 1100m erinnern mich die Viehweiden hier oben bereits ein wenig an die Almen der Alpen.

Ausnahmsweise treffe ich andere Wanderer: Urlauber aus einem nahen Dorf. Ein Stück weit gehen wir zusammen, dann mache ich mich an den langen Abstieg nach Buis-de-Baronnies, fast 800hm tiefer.

Über diese imposante Felsnadel laufen mehrere Klettersteig. Zum Glück führt mein Weg nur an ihrem Fuße entlang.

Mir ist schon von der Vorstellung schwindelig.

Während der alltägliche Gewitterschauer nieder geht, verbringe ich den Abend in Buis-de-Baronnies bei Pastis & Pizza, mische mich unter die Einheimischen, schnuppere französische Lebensart und komme erst davon, als die letzte Crème Brûlée au Citron vertilgt ist.

A votre santé!

Etappenlänge: ca. 18km

Lubéron

Lubéron

Tag 16: Manosque – Céreste

Nach dem Ruhetag verlasse ich Manosque in westlicher Richtung. In den nächsten Tagen werde ich die Höhenzüge des Lubéron durchqueren. Doch zunächst führt mein Weg mich zu einer alten Kapelle hinauf, von der aus man noch ein Mal ins Tal der Durance zurückblicken kann.

Kapelle bei Manosque.
Ist das Statik oder Gottvertrauen? 
Durch Olivenhaine geht es wieder hinab.
Ein Kanal zur Bewässerung der umliegenden Weinberge.

Meine Route verläuft oft über kleine Asphaltstraßen. Mich stört das nicht weiter – im Gegenteil, nach den Geröllhalden der letzten Tage bin ich froh, dass ich den Blick mal von den Füßen lösen und schweifen lassen kann.

Die Landschaft hat sich erneut geändert: sanfte Hügel, fruchtbare Felder und blühende Wiesen, dazwischen weit verstreut große Gehöfte.

Blühender Ginster und grüne Wiesen im Lubéron.

Den ganzen Tag über verfolgen mich Gewitterschauer, auch die Nacht über sollen sie anhalten. Wenige Kilometer hinter Céreste entdecke ich eine verlassene Gartenlaube. Die überdachte Terrasse ist ein perfektes Lager für die Nacht!

Hinter der Laube plätschert ein kleiner Bach. Ein vielstimmiges Froschkonzert begleitet mich in den Schlaf. Quaaaaak!

Etappenlänge: ca. 24km

Wort des Tages: grenouille

Tag 17: Cerestre – Valsainte

Um neugierigen Blicken zu entgehen, bin ich schon früh wieder unterwegs.

Nach wenigen Kilometern gelange ich an die Ruinen der ehemaligen Klosterkirche Prieuré Carluc.

Prieuré Carluc
Viele alte Steine.
Teile der Klosteranlage sind in den rohen Felsen gehauen.

Die Landschaft bleibt idyllisch, über Felder und Wiesen geht es auf und ab. Ich kann mich gar nicht satt sehen an den blühenden Hängen. Alles wirkt sehr ländlich hier.

Ein typischer Bewohner des Lubéron.

Auch die Dörfer haben sich verändert. Es gibt kaum noch Geschäfte; Restaurants haben geschlossen. Viele alte Häuser stehen leer und verfallen langsam.

Oppedette. Das Bistro im Ort hat schon lange geschlossen.

Ich laufe noch bis zum Campingplatz in Valsainte. Auch hier wirkt alles verlassen und baufällig. Ich bin der einzige Gast. Doch es ist sauber, der Besitzer ist freundlich und stellt extra für mich das heisse Wasser an. Und die Lage wiegt alles auf: das „heilige Tal“ ist wunderschön, still, weltabgeschiedenen.

Mein Zeltplatz im Valsainte.

Etappenlänge: ca. 19km

Wort des Tages: collines

Tag 18: Valsainte- Lagarde d’Apt

Meine Nacht in dem stillen Tal wirkt nach. Ich schlafe lange und verbringe den Vormittag tiefenentspannt bei Kaffee und Frühstück, am Bach hinter dem Zeltplatz in der Sonne sitzend.

Die friedliche, gelassene Stimmung begleitet mich noch den ganzen Tag.

Der Weg führt durch eine kleine Schlucht. Der enge Talgrund ist von Dickicht überwuchert; mehrmals muss ich mir einen Pfad durch das dichte Gestrüpp bahnen. Nächstes mal kommt eine ultraleichte Heckenschere ins Gepäck!

Eben war da noch ein Weg!

In Simian-de-la-Rotonde erwartet mich ein steiler Anstieg durch eine sehenswerte Altstadt. Plötzlich stehe ich schon oben auf dem Schloßberg. Ich entscheide mich gegen eine Besichtigung: es ist schon recht spät und ich will noch einige Kilometer laufen heute. Überhaupt habe ich während des Wanderns meist wenig Lust auf Besichtigungen – meist treibt es mich rasch weiter.

Die Geschäfte im Ort habe ich verfehlt – dann muss der nächste Einkauf bis morgen warten. Genügend Snacks habe ich noch, auch wenn Brot, Käse und Süßes aus sind.

Hinter dem Ort führt der Weg in den Wald; gegen 19 Uhr fülle ich am Rathaus von Lagarde d’Apt nochmal Wasser auf.

Seltsame Strukturen: jedes kleine Dorf in Frankreich ist eine Gemeinde mit Rathaus („Mairie“). Dieser Ort hier mitten im Wald besteht nur aus einem riesigen, alten Gutshof, einer Kirche, einem geschlossenen Gasthaus und eben dem Rathaus, welches aber zuverlässig einmal wöchentlich geöffnet hat. Für wen denn nur?

Auf einer kleinen Lichtung im Wald schlage ich schließlich mein Lager auf. In der Nähe liegt ein großes Freigehege für Rehe und Hirsche; das groteske, heisere Bellen eines Rehbocks ist heute mein Gute-Nacht-Lied.

Etappenlänge: ca. 21km

Wort des Tages: pacifique

Tag 19: Lagarde d’Apt – Sault

Meine Nacht im Wald bleibt ruhig. Auch am nächsten Tag bieten sich nur wenige Ausblicke.

Wolkenspiele beim Blick zurück auf die Felder des Lubéron.
Lavendelfelder.

Immerhin erhasche ich einen ersten Blick auf den Mont Ventoux, den „Berg der Winde“, mit 1911m die höchste Erhebung der Provence. Ausser für die namensgebenden Stürme, die oft über ihn hinweg brausen, ist er vor allem als fordernde Etappe der Tour de France berühmt-berüchtigt.

Mont Ventoux in der Ferne. Ausnahmsweise ohne Wolken am Gipfel.

Eigentlich sollte die nächste Etappe über den Mont Ventoux hinweg führen – doch ausgerechnet morgen findet dort ein Triathlon-Event statt: nach 2km Schwimmen und 80km mit dem Rad den Berg hinauf stehen noch 20km Laufen an. Mir reichen ja die 20km zu Fuß am Tag 🙂

Ich entschließe mich also, dem Trubel aus dem Weg zu gehen, die lange Etappe und den wolkenverhangenen Berg zu vermeiden und – völlig unsportlich! – einfach gemütlich um den Mont Ventoux herum zu wandern.

Überhaupt fühle ich mich heute sehr unsportlich, seltsam schlapp und schwindelig, habe Kopfschmerzen und schlechte Laune. Ich werde doch wohl nicht krank?

Doch so langsam dämmert mir: bei meinem Nachtlager im Wald habe ich natürlich weder Abendessen noch heute morgen Kaffee gekocht – und jetzt leide ich ganz offensichtlich unter eklatantem Koffeinmangel! Ohne Kaffee KANN man einfach gar nicht wandern. 🙂

Kurz vor Küchenschluss komme ich am frühen Nachmittag an einem Imbiss in Sault an (das Konzept der „durchgehend warmen Küche“ ist in Frankreich völlig unbekannt). Ein reichhaltiges Mittagessen mit eiskalter Cola bessert mein Befinden direkt und nachhaltig!

(Nicht im Bild: Kaffee und Pain au Chocolat zum Nachtisch. Nom.)

Etappenlänge: ca. 20km

Wort des Tages: coffeine

Durch die Provence

Durch die Provence

Tag 12: Moutiers Sainte-Marie – Riez

Die Tour entlang des Verdon hat mir einen prächtigen Muskelkater beschert. Mühselig schleppe ich mich die nächsten drei Tage durch die Provence.

Ein letzter Blick zurück auf den Lac Sainte-Croix. Von den Bergen im Hintergrund bin ich gestern heruntergekommen.

In Südfrankreich ist die Waldbrandgefahr allgegenwärtig. Jeden Sommer fallen große Flächen dem Feuer zum Opfer. Zu einigen Waldgebieten ist der Zutritt in den heißen, trockenen Sommermonaten deshalb komplett untersagt. Bei der ungewöhnlich feuchten Wetterlage derzeit ist das zum Glück noch kein Thema, die Spuren verheerender Waldbrände sieht man hier aber immer wieder.

Als ich aus dem Tal des Lac Sainte-Croix heraus gestiegen bin, wandelt sich plötzlich die Landschaft. Ich habe die Vorgebirgslandschaft der Prealpes d’Azur hinter mir gelassen; vor mir erstreckt sich eine fruchtbare Hochebene bis zum Horizont.

Getreide- und Lavendelfelder säumen den Weg; dazwischen steinerne Häuser mit terrakottafarbenen Dächern.

Die Provence erfüllt all ihre Klischees.

Etappenlänge: ca. 21km

Wort des Tage: la courbature

Tag 13: Riez – Greoux-Le-Bains

Die Provence ist seit Jahrtausenden besiedelt. Vor allem die Römer haben ihre Spuren hinterlassen.

Säulen eines römischen Tempels in Riez.

Zwischen den blühenden Feldern erheben sich bewaldete Höhen. Darüber hinweg ziehen sich gerölllübersäte, erosionsgeschädigte Wege, die das Vorankommen mühsam machen.

Die Provence ist sturmerprobt, der „Mistral“, ein oft tagelang anhaltender, scharfer Fallwind ist berüchtigt (und trägt seinen Teil zur Waldbrandgefahr bei). Auch heute pfeift es kräftig über die Höhen hinweg.

Die Landschaft ist dicht besiedelt, die Anwesen und Orte sind gepflegt. Alles erweckt den Eindruck, dass sich hier vor allem wohlhabende Ruheständler ihren blühenden Gärten widmen, die mit der Farbenpracht der Felder und Wiesen wetteifern.

Blühender Mohn säumt Felder und Wiesen.

In Greoux-Le-Bains, einem alten Kur- und Badeort, gibt es ein letztes Wiedersehen mit dem Verdon. Seine beeindruckende türkise Farbe hat er hier aber bereits verloren.

Verdon bei Greoux-Le-Bains.

Etappenlänge: ca. 24km

Wort des Tages: la tempête

Tag 14: Greoux-Le-Bains – Manosque

Immer wieder komme ich an Feldern vorbei, auf denen Eichen in Reih und Glied gepflanzt sind. Unter den Bäumen ist der Boden frisch gepflügt. Ich kann mir keinen Reim darauf machen; erst viel später in Manosque bringt mich eine aushängende Speisekarte auf die richtige Idee: Trüffel!

Ein Trüffelhain.

Die letzten 5 Kilometer führt der Weg über eine schmale, viel befahrene Ausfallstraße. Die Brücke von Manosque ist auf 30km die einzige Möglichkeit, die Durance zu überqueren. Auf Wanderer kann man da keine Rücksicht nehmen.

Brücke von Manosque. Hat seit ihrem Bau in den 50er Jahren auch schon bessere Zeiten gesehen.

Etappenlänge: ca. 15km

Wort des Tages: la truffiere

Tag 15: Manosque

Ich gönne mir einen wohlverdienten Ruhetag. Einkaufen, Besorgungen, Wäsche waschen, essen, schlafen.

Mein Hotel, mitten in der Altstadt, versprüht den nostalgischen Charme klassischer französischer Filme.

Ein ganzes Zimmer nur für mich 🙂
Reichlich Optionen, um dem Kaloriendefizit entgegen zu wirken.

Fazit soweit:
Mir tut alles weh – die Schultern, die Füße; ich bin von Mücken zerstochen, vom Gestrüpp zerkratzt; habe Sonnenbrand, Muskelkater und Blasen an den Füßen – aber 2 Wochen und deutlich über 200km sind geschafft! Yeah! 🙂

Grand Canyon du Verdon

Grand Canyon du Verdon

Tag 7 & 8: Castellane

Ich lege zwei Pausentage ein, um mich von der ersten Woche zu erholen und eine weitere Schlechtwetterfront abzuwarten.

Castellane ist eine reizende, kleine, alte Stadt in der Nähe des berühmten „Grand Canyon du Verdon“ und ist dabei erstaunlich jung: es ist fest in der Hand sonnengebräunter, lässiger Menschen, die hier Rafting-, Canyoning- und Klettertouren anbieten, Hipsterrestaurants und Craftbeerbars betreiben.

Castellane am Verdon

Ich hingegen konzentriere mich auf schlafen, essen und schlafen.

Tag 8: Castellane – Rougon

Die letzten Nebelschwaden hängen noch über den Wäldern, als ich mich auf den Weg mache. Hoch über dem Verdon wandere ich durch Wälder und schließlich über eine feuchte Hochebene.

Wolkenfetzen hängen an den Bergen.

Nicht die Dolomiten.
Dunkle Regenwolken verfolgen mich.

Heute treffe ich zum ersten Mal zahlreiche andere Wanderer; die Nähe zur Gorge du Verdon als Touristenmagnet scheint sich bemerkbar zu machen. Für ein bisschen Smalltalk reicht dann sogar mein karges Französisch – aber auch viele Deutsche sind hier unterwegs.

In Rougon ist mein Tag früh zu Ende: direkt hinter dem Ort beginnt der Weg durch die Schlucht, die für morgen auf dem Programm steht. Ich schlage etwas Zeit tot, warte in einem Bushäuschen einen Gewitterschauer ab und beobachte die Geier, die über mir kreisen. Vor einigen Jahren wurden sie hier erfolgreich ausgewildert und bevölkern nun in einer großen Kolonie von rund 100 Tieren die Schlucht.

In der Nähe einer verfallenen Ruine schlage ich schließlich im Wald mein Lager auf. Hier spukt es doch bestimmt nachts!

Etappenlänge: ca. 18km

Wort des Tages: Vautour

Tag 9: Gorges du Verdon

Der Tag beginnt feucht und nebelig, doch ab heute soll das Wetter endlich besser werden.

Um 9 Uhr bin ich auf dem Weg; etwa 16km und rund 6 Stunden sind für die Wanderung durch die Gorges du Verdon angesetzt. Der Weg, „Sentier du Blanc-Martel“, wurde 1930 angelegt und zieht sich spektakulär auf halber Höhe zwischen Kamm und Flussbett durch die Steilhänge.

Einstieg in die Gorges du Verdon

Schon kurz nach dem Start durchquert der Weg auf über 600m Länge einen alten Tunnel, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts für ein damals geplantes und nie vollendetes Wasserkraftwerk angelegt wurde. Es ist stockfinster und das Wasser steht knöcheltief im Tunnel. Und ich hatte mich SO auf den ersten Tag mit trockenen Füßen gefreut!

Auf über 250 Stufen durch den Fels

Der Weg führt immer wieder steil über Felsen auf und ab. Eine echte Kletterpartie! Die Schlucht tief unter ruft meine Höhenangst auf den Plan und lässt mich unsicher werden: Schaffe ich den Weg überhaupt? Wie schwierig wird es werden? Und was soll ich tun, wenn es nicht geht? Aussteigen ist hier nicht möglich. Es ist mental fast anstrengender als körperlich.

Gewagte Wegführung

Etwas Kontakt zu meinen Mitwanderern – erneut viele Deutsche – lenkt mich ab, und später treffe ich auch zwei Damen von gestern wieder: Pascale und Jocelyn, die genau wie ich auf längerer Tour sind. Bis Manosque in etwa einer Woche haben wir den gleichen Weg.

Und auch der Weg ist weniger schwierig als zunächst befürchtet, und so kann ich die wunderbare Strecke nun genießen.

Mittagspause am Ufer des Verdon
Ein frisch Gezapftes – direkt von der Decke einer natürlichen Grotte

Um 15:30 erreiche ich das „Chalet de Maline“ – nach genau 6,5 Stunden. Ein beruhigendes Gefühl, dass ich auch mit Gepäck die Wege gut in der angegebenen Zeit schaffe. Trotz der eher kurzen Strecke war es anstrengend, gut 1000 Höhenmeter im Auf und Ab hatte der Weg. So beschließe ich den Tag hier auf der Hütte, vom französischen Alpenverein betrieben: seit Nizza die erste Nacht in einem Bett!

Zu Pascale, Jocelyn und mir gesellt sich mit Léa noch eine junge Frau, die – mit Pferd! – gerade aus der Gegenrichtung kommt. Bei deftigem Essen vergeht der Abend und das Frühstück am nächsten Morgen mit angeregtem Erfahrungsaustausch zwischen Fernwandererinnen, über Touren und Ausrüstung, der in einer Zeltvorführung auf der Terrasse gipfelt. Trailcommunity auf dem GR4!

Etappenlänge: ca. 16km

Wort des Tages: vertige

Tag 10: Chalet La Maline – Moutiers Sainte-Marie

Der Wanderweg folgt nun der Panoramastraße oberhalb der Schlucht.

Ein letzter Blick zurück auf den „Grand Canyon“

La Palad-sur-Verdon, das Dorf am anderen Ende der Schlucht, ist schon jetzt, in der Nebensaison, von Touristen überlaufen. Viel zu breite Wohnmobile werden von überforderten Fahrern durch enge Straßen manövriert. Deutsche Kennzeichen überall. Ich kaufe schnell Brot, Käse und Obst und verschwinde.

Endlich ist Sommer!

Schon fast zu warm in der Sonne im Aufstieg, doch oben auf dem Bergrücken weht ein kühler Wind und im Schatten ist es herrlich. Ich genieße das Wetter in vollen Zügen. Ein perfekter Wandertag!

Panorama

Die letzten Kilometer geht es nach einem langen Tag noch mal steil bergab, doch das Panorama entschädigt für alle Schmerzen.

Tief unten glitzert der Lac Sainte-Croix…
… in den links der Verdon einmündet.

Herrlich!

Etappenlänge: ca. 25km

Wort des Tages: plaisir

Büsche & Bäche

Büsche & Bäche

Tag 4: Le Fanguet – Valderoure

Bei einem herrlichen Sonnenaufgang genieße ich das Frühstück auf meiner Blumenwiese. Es bleibt der unangefochtene Höhepunkt des Tages.

Durch Frankreich führt ein weitläufiges Netz gut markierter und ausgeschilderter Fernwanderwege, die „Grandes Randonnées“, kurz GR, denen ich auf meiner Tour folgen will. Um ein anstrengendes Teilstück zu umgehen, habe ich mir für heute jedoch eine eigene Strecke herausgesucht.

Meine Karte ist hervorragend, doch die Pfade – oftmals wohl alte Verbindungswege zwischen den Orten, bevor die heutigen Straßen angelegt wurden – werden sichtlich wenig begangen. Viele sind zugewuchert, gar nicht mehr erkennbar oder führen über privaten Grund und sind plötzlich gesperrt. Immer wieder muss ich mich orientieren, suchen, umkehren, mich durchs Gebüsch schlagen oder, wenn sich gar kein Weg findet, an Straßen entlang laufen. Es ist anstrengend und mühselig.

Privatbesitz – kein Durchgang.

Ich komme an einem verlassen daliegenden Flugplatz vorbei, der in den 90er Jahren auf einem abgelegenen Hochplateau von enthusiastischen Hobbypiloten angelegt wurde. Eine kleine Propellermaschine knattert im Landeanflug über mich hinweg. Wenig später treffen sich auf einem einsamen südfranzösischen Flugplatz ein belgischer Pilot und eine norddeutsche Wandererin, die hier jeder für sich ihrer ganz eigenen Passion nachgehen. Was für eine unwahrscheinliche Begegnung.

Am frühen Nachmittag setzen erneut Schauer ein; es ist kalt und ungemütlich. Dann geht auch noch dem Akku unerwartet die Luft aus.

Ein lustiger Esel zur Aufmunterung. 🙂

Im nächsten Ort, Caille, erklärt sich die Verkäuferin in einem Mini-Supermarkt bereit, Handy & Akku zu laden. Ich suche derweil vor dem nächsten Schauer Schutz unter einem überdachten Lavoir, dem Waschsalon des 18. Jahrhunderts.

Typisches Lavoir in Caille.

Als ich wieder auf dem Weg bin, dämmert es schon fast. Die Wiesen im Tal, in dem ich lagern wollte, stehen knöcheltief unter Wasser, der angrenzende Wald ist ganz offensichtlich fest in der Hand der Wildschweine; die Spuren sind eindeutig. Schließlich entdecke ich eine umzäunte, aber leere Schafweide. Meine Hybris von gestern holt mich ein: wenn die Alternative „Wildschwein“ heisst, sind ein paar Schafköttel plötzlich gar nicht mehr so schlimm!

Etappenlänge: ca. 21km

Wort des Tages: le buisson

Tag 5: Valderoure – La Garde

Die Nacht bleibt ungestört, aber nicht erholsam. Bei Sonnenaufgang breche ich direkt wieder auf. So langsam spüre ich die Anstrengung der letzten Tage.

Bald folge ich einem GR, nun ist der Weg nicht mehr zu verfehlen. Auf oft breiten, zerfahrenen oder unterspülten Wegen geht es dahin; die wunderbaren Steineichen wurden schon lange von Kiefern abgelöst. Hin und wieder sieht man jetzt sogar Forstwirtschaft – im Gegensatz zu deutschen Wäldern hier eher selten.

Gut orientiert!

In der Vormittagssonne trockne ich mein feuchtes Equipment; nur die Füße bleiben nass. Nasse Wiesen und schlammige Wege fordern ihren Tribut.

Immer wieder kreuzen die Wege auch kleine oder größere Bäche. In dem üblicherweise trockenen Klima führen sie kaum Wasser, so dass sich Brücken nicht lohnen, doch mit dem vielen Regen der letzten Wochen gibt es Wasser im Überfluss. Immer wieder muss ich „furten“, mal mit einem großen Sprung oder über ein paar Steine balancierend – und heute muss ich sogar durch wadentiefes, eiskaltes Wasser waten. So hatte ich mir den Sommer in Frankreich nicht vorgestellt!

Diese Furt konnte ich noch umgehen…
… doch hier muss ich durch!
Kneipp-Kur à la française.

Zu nassen Füßen gesellt sich natürlich der allnachmittägliche Gewitterschauer. Patschnass erreiche ich den Campingplatz. Nach 3 Nächten wildcampen habe ich eine heiße Dusche und eine Waschmaschine jetzt aber auch dringend nötig!

Etappenlänge: ca. 18 km

Wort des Tages: gué (… und als solche sind die Furten sogar auf meiner Karte verzeichnet. Ach!)

Tag 6: La Garde – Castellane

Mein Weg verläuft heute parallel zur „Route Napoleon“. Heute eine beliebte Strecke für Motorrad-, Oldtimerfahrer und Ausflügler, markiert sie eigentlich den Weg, den der Kaiser mit seiner Armee bei seiner Rückkehr aus dem Exil auf Elba im Jahr 1815 nahm. In 6 Tagen marschierte er vom Mittelmeer nach Grenoble – ich habe mir dafür 4 Wochen vorgenommen. Der reinste Spaziergang!

Blühende Landschaften auf dem Weg nach Castellane.

Pünktlich zu Mittag komme ich in Castellane an – das erste Zwischenziel meiner Tour ist erreicht, die ersten 100 Kilometer geschafft!

Castellane

Ich feiere mit einem üppigen französischen Menü und Rotwein zum Mittag. Es gewittert und schüttet wie aus Eimern.

Vive la France!

Etappenlänge: ca. 9km

Wort des Tages: se reposer

Es geht los!

Es geht los!

Tag 1: Von Nizza nach Saint-Jeannet

Nachdem die Regenfront abgezogen ist, geht es am Dienstag endlich los.

Mein Startpunkt ist der Vorstadtbahnhof Saint-Laurent-du-Var, ganz in der Nähe des Flughafens von Nizza.

Bei bestem Wanderwetter – heiter bis wolkig bei knapp 20 Grad – laufe ich los. Kleinstädtische Vororte gehen in Villensiedlungen und schließlich in dörfliche Strukturen über.

Es eröffnen sich prächtige Ausblicke über das Tal der Var tief unten, Nizza am gegenüberliegenden Ufer, das Mittelmeer am Horizont.

Und auf ein Mal kann ich sogar bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Alpen sehen!

Schon am frühen Nachmittag komme ich in Saint-Jeannet an. Für läppische 6 Euro darf ich mein Zelt auf einem „Camping a la ferme“ (etwa: Camping auf dem Bauernhof) auf einem Weingut aufschlagen.

Die Ausstattung ist etwas rustikal, doch dafür nächtige ich zwischen Olivenbäumen und Weinstöcken. Herrlich!

Einbruch der Dunkelheit. Ich liege im Zelt, in der Ferne grollt ein Gewitter. Gerade überlege ich, ob es wohl näher kommen wird, da höre ich draußen plötzlich etwas Laufen. Etwas Großes! Ich öffne das Zelt. Und befinde mich – Auge in Auge mit einem Wildschwein!

Die Sau bleibt unbeeindruckt von meinen panischen Versuchen, sie zu verscheuchen. Ungerührt stöbert sie unter den Olivenbäumen nach Leckereien. Irgendwann zieht sie schnaufend von dannen. Vorerst zumindest. Ich vermute, sie genießt hier Hausrecht – mir bleibt als Gast nichts übrig, als mich damit zu arrangieren. Etwas beunruhigt lege ich mich schlafen…

Tagesetappe: ca. 16km

Wort des Tages: le sanglier

Tag 2: Von Saint-Jeannet nach Coursegoules

Die Nacht bleibt ruhig, keine Sau interessiert sich für mich. Eine lange Etappe steht an; ich marschiere frohen Mutes los. Erneut herrscht ideales Wanderwetter.

Es geht durch Saint-Jeannet, am Fuße eines gewaltigen Kalkfelsens gelegen, das mit seinen engen Gassen wie aus einem Historienfilm entsprungen wirkt. (Tatsächlich hatte es einen Auftritt in Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“.) Während vergleichbare Orte in Deutschland sich vermutlich längst in eine Art verkitschtes Freilichtmuseum voller Touristen verwandelt hätten, wirkt das Alltagsleben hier noch sehr lebendig und im besten Sinne „normal“.

Mein Weg führt mich am Fuße der Klettergebiete des „Baou de Saint-Jeannet“ vorbei; auf schmalen Pfaden am Hang entlang. Lichte Steineichenwälder dominieren die Vegetation.

Nach gut 2,5 Stunden erreiche ich die Ruine „Le Castellet“.

Hinweise auf ihre Geschichte suche ich vergebens – touristische Inwertsetzung ist hier offenbar ein Fremdwort. Die abgeschiedene Lage scheint alle Touristen erfolgreich abzuschrecken – denke ich mir gerade, als just in dem Moment zwei Wanderer durchs Gebüsch brechen. 🙂 Es bleiben die einzigen an diesem Tag.

Der Weg führt in ein enges Flusstal hinein. Es ist feucht; der moosüberwucherte Wald wirkt mystisch-surreal.

Am frühen Nachmittag raste ich an einer verlassenen Mine. Verrostete Gleise und verschiedene zurückgelassene Geräte wirken, als sei hier noch vor wenigen Jahrzehnten Betrieb gewesen – ich frage mich, was hier gefördert wurde und wie in diesem verwilderten Tal der Abtransport von Statten ging.

Nach steilem Aufstieg erreiche ich schließlich meine „Reisehöhe“ von rund 1000m üNN – in dieser Höhenlage werde ich nun mehrere Tage unterwegs sein. Das Wetter hat sich indes verschlechtert, ich tappe durch tief hängende Wolken. Eichenwald im Nebel – eine unwirkliche, unheimliche Stimmung. Starker Regen setzt ein, ein Gewitter zieht auf. Ich kauere mich ins Unterholz. Trotz Regenkleidung bin ich in kürzester Zeit tropfnass.

Als das Gewitter nachlässt, laufe ich trotz des Regens weiter. Es ist 17:30 Uhr; noch eine Stunde bis zum Ziel – Coursegoules -, ein wenig oberhalb davon will ich biwakieren.

Kurz vor dem Ort entdecke ich auf einer Wiese am Fluss einen leer stehenden Schuppen. Planänderung! Hier bleibe ich! Was auch immer das hier sein mag – vielleicht der Grillplatz der Dorfjugend? – ich bin sicher, dass an diesem verregneten Mittwoch Abend im Mai hier niemand mehr vorbei kommen wird.

Hinein in den Schuppen, nasse Klamotten aufhängen, das Lager in einer Ecke am Boden aufschlagen, noch schnell Tee und heiße Suppe kochen und dann falle ich in einen etwas frösteligen Schlaf.

Tagesetappe: ca. 22km, ca. 1100hm Aufstieg

Wort des Tages: tout trempé

Tag 3: Von Coursegoules nach Le Fanguet

Die Nacht war kühl, ich komme nur schwer in die Gänge morgens. Für den Nachmittag sind erneut Gewitter vorhergesagt; daher plane ich nach dem langen Tag gestern heute nur eine kurze Etappe.

Im Ort kaufe ich mir Obst und Backwaren zum Frühstück – ich gewöhne mich daran, dass die kleinen Dörfer hier alle noch funktionierende Infrastruktur haben: Bäcker, Lebensmittelgeschäft und Bar / Restaurant gehören zu jedem Ort dazu. Mehr frisch kaufen, weniger Vorräte tragen – sehr gut!

An der alten Kapelle oberhalb des Dorfes, an der ich eigentlich nächtigen wollte, muss ich an Reiseberichte aus Irland denken: alles voller Schafsköttel!

Wenig später entdecke ich die Urheber der Spuren:

Und noch etwas später entdecken mich vier pflichtbewusste Herdenschutzhunde. Ich halte die kläffenden Bestien mit den Trekkingstöcken auf Abstand und weiche zurück – platsch, aufs Hinterteil! Am Boden bin ich wohl keine Gefahr mehr – sie lassen von mir ab.

Tief durchatmen. Ich versuche, die Herde weiträumig zu umgehen. Vergeblich! Wieder treiben die Hunde mich zurück. Ich klettere einen Abhang runter – da taucht urplötzlich oberhalb am Weg eine vergnügte Gruppe Wanderer in meinem Blickfeld auf.

„Attention!“ rufe ich Ihnen zu, als sie die Aufmerksamkeit der Hunde auf sich ziehen. Sie lachen: Ils ne font rien! Montez, montez!“ – „Die tun nichts, kommen Sie hier hoch!“

Die Hunde springen schwanzwedelnd um die Gruppe herum. Ich bin verblüfft. „Mais… pourquoi?!“ – „Aber… warum?!“ ist alles, was ich hervorbringe. Lachend erklärt man mir, dass ich nur mit den Hunden reden muss. Na, hoffentlich ist mein Französisch dafür gut genug!

Mein weiterer Weg führt hoch am Hang an der Baumgrenz entlang, zwischen Steineichenwäldern und steilen Geröllhängen. Dunkle Regenwolken ziehen über mich hinweg, die spektakulären Ausblicke bleiben diesig.

Der Welt fehlt es an Kontrast.

Während einer ausgedehnten Kaffeepause in Gréolières klart es auf, und ich laufe doch noch einige Kilometer weiter, einer alten Römerstraße folgend.

Mein Lager schlage ich in der Abendsonne auf einer blühenden Wiese auf. Ich bin im Paradies.

Tagesetappe: ca. 20km

Wort des Tages: tranquiller

Und sonst noch:

Unter „Wo bin ich“ könnt ihr meine Route nachverfolgen. Kilometerangaben sind nicht immer ganz exakt, aber die grobe Richtung stimmt 😉

Die nächsten Beiträge werden kürzer (versprochen!) – und ich werde auch ein paar mehr generelle Infos zu meiner Reise liefern, sobald ich nicht mehr so von meiner unmittelbaren Umgebung hingerissen bin. 🙂

Nizza

Nizza

Mein Aufenthalt in Nizza fühlt sich an wie der Besuch einer spießigen Großtante. Stilvoll und elegant herausgeputzt, erzählt sie ständig von früher; von den guten alten Zeiten, mit prächtigen Promenaden und mondänen Hotels. Dabei haben ihr trendige Hostels, gesichtslose Einkaufspassagen und dem Billigtourismus angepasste, pseudo-folkloristische Fressmeilen längst den Rang abgelaufen.

Bei allem Charme: die alte Tante Nizza ist in Wahrheit sehr, sehr langweilig. Und der Strand besteht auch nur aus Kieseln.